Bandscheibenbeschwerden, Verspannungen & Rückenschmerzen?
Warum der Körper vergisst, wie er sich gesund bewegen kann?
Sensomotorische Amnesie verstehen (Teil 2)
In meinem ersten Artikel habe ich erklärt, was es bedeutet, wenn der Körper bestimmte Bewegungsmuster vergisst. Sensomotorische Amnesie ist dabei ein Begriff, der mir zwar erst vor Kurzem begegnet ist – aber das Phänomen dahinter erlebe ich täglich in meiner Praxis. Die Frage, die sich daraus ergibt: Wie kommt es überhaupt dazu, dass der Körper verlernt, wie er sich natürlich bewegen kann?
Bewegungsmangel – der schleichende Auslöser
Wir leben in einer Zeit, in der sich unser Alltag dramatisch verändert hat. Viele von uns verbringen Stunden am Schreibtisch, im Auto oder vor Bildschirmen. Der Körper wird dabei immer auf dieselbe Weise beansprucht – oder besser gesagt: unterfordert. Muskeln, Gelenke, Faszien – sie alle brauchen Abwechslung, Reize, Bewegung. Bleibt das dauerhaft aus, sendet der Körper irgendwann keine klaren Signale mehr ans Gehirn. Und das Gehirn? Schaltet auf Autopilot und fragt nicht mehr nach.
Der Alltag als Hamsterrad
Ich erlebe oft, dass meine Patienten gar nicht merken, wie sehr sie im Autopilot laufen. Der Arbeitsalltag ist getaktet, die To-do-Liste voll, der Kopf ausgelastet. Der Körper wird nur noch “mitgeschleppt”. Wenn wir täglich dieselben Bewegungsmuster ausführen, entstehen eingetretene Pfade – Bewegungsroutinen, die sich tief ins Nervensystem einschreiben. Neue Bewegungen? Fehlanzeige. So verlernt der Körper, was er einmal konnte.
„Ein Übermaß an Information führt zu einem Mangel an Aufmerksamkeit.“
– Herbert A. Simon, Nobelpreisträger für Wirtschaft, 1971 –
Dieses Zitat stammt aus den 1970er-Jahren – und ist heute aktueller denn je. Denn wenn unsere Aufmerksamkeit ständig nach außen gerichtet ist, bleibt kaum Raum, um in den Körper hineinzuspüren. Genau dort beginnt oft eine sensomotorische Amnesie.

Trauma hinterlässt Spuren
Neben Bewegungsmangel spielen auch körperliche oder seelische Traumata eine große Rolle. So können Unfälle, Verletzungen, Operationen, aber auch emotionale Belastungen Spuren im Nervensystem hinterlassen. Manchmal schaltet der Körper einzelne Bereiche einfach ab, um sich zu schützen. Diese Schutzstrategien sind kurzfristig sinnvoll – aber wenn sie zur Gewohnheit werden, verfestigen sie sich zu Mustern.
In unserer Sprache spiegelt sich das oft wider: Ein Patient sagte nach einem Schreckmoment: „Mir stockte der Atem.“ Ein anderer: „Wenn ich ans Fliegen denke, schlottern mir die Knie.“ Und manche hängen buchstäblich in den Seilen. Bei Patienten mit depressiven Episoden sehe ich häufig eine niedergedrückte Haltung. Solche Redewendungen beschreiben sehr genau, wie Emotionen sich körperlich ausdrücken können.
Krankheit, Medikamente, Rauschmittel
Auch Erkrankungen, Medikamente oder Substanzen, die auf das Nervensystem wirken, können die sensomotorische Störung auslösen. Besonders dann, wenn sie die Körperwahrnehmung dämpfen oder das Gleichgewicht im vegetativen Nervensystem verändern. Das betrifft sowohl die bewusste Steuerung von Bewegung als auch die unbewusste Grundspannung im Körper.
Wir haben es einfach nicht gelernt
Ein letzter, aber nicht unwichtiger Punkt: Viele von uns haben nie gelernt, wie sich “gesunde” Bewegung eigentlich anfühlt. Wenn Kinder kaum noch toben, klettern, sich ausprobieren dürfen – wenn Erwachsene keine Rückmeldung mehr über ihre Haltung bekommen – dann fehlt schlicht die Erfahrung. Der Körper weiß gar nicht, dass er etwas verlernt hat.
Das Leben ist bekanntlich bunt - Meist ist es nicht nur eins – sondern die Summe vieler kleiner Dinge.
Das Gehirn bleibt neugierig
Die gute Nachricht: Das Gehirn ist ein lernfreudiges Organ. Es braucht nur gezielte Impulse, um die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Bewegung wieder herzustellen. Kleine Veränderungen, bewusste Bewegungen, neue Reize – das reicht oft schon, um neue Verbindungen im Nervensystem zu knüpfen. Manchmal ist es wie beim Erinnern an einen alten Pfad im Wald: Erst undeutlich, dann wieder vertraut.
Hast du dich in einem der beschriebenen Muster wiedererkannt?
Vielleicht beobachtest du bei dir selbst ähnliche Gewohnheiten – oder ganz eigene Strategien, mit denen dein Körper auf Stress, Spannung oder Belastung reagiert.
In meiner Praxis sehe ich oft, dass der erste Schritt zur Veränderung darin liegt, überhaupt wieder in den Dialog mit dem eigenen Körper zu kommen.
Wenn du Fragen hast, etwas nicht ganz einordnen kannst oder ein Erlebnis teilen möchtest, das dich an diesen Text erinnert – ich freue mich über deine Nachricht.
Teil 3 folgt in Kürze:
Im nächsten Teil der Serie zeige ich dir, wie man dem Körper helfen kann, diese vergessenen Muster wieder neu zu entdecken. Und wie du selbst aktiv werden kannst, um deine Haltung, dein Spürbewusstsein und deine Beweglichkeit zu unterstützen.